Gedanken am Sonntag
von Peter Hahne
Gestern sah ich den glutroten Sonnenball vom Flakturm des Hochbunkers im Humboldthain aus untergehen.
Als ich das Fahrrad im Hof anschloß und durch die Hintertür rein an den verdreckten Kinderwägen vorbei überlegt habe, die auf den Boden geschmissenen Einkauf-Aktuell in den Müll zu werfen dachte ich, kann mal ein anderer machen. Die Treppe hoch plötzlich traurig geworden als mir einfiel: ich verstehe das Leben nicht. Dann: das ist ja vielleicht auch ein bißchen viel verlangt. Dann, als ich die Tür aufschloß: ja, gut, aber ich verstehe ja MEIN Leben auch überhaupt nicht, ich stehe daneben und verstehe überhaupt nicht, was es ist, was es soll, was ich soll.
Daß das jetzige Leben schon das richtige ist, man nicht warten kann auf ein anderes, was erst käme und sich einstellte, das richtigere. Die Einsicht, daß das eigene Leben gleichzeitig gelungen wie verpfuscht ist. Hat mich eigentlich fast getröstet?
Ich möchte eine der wenigen verbleibenden Gelegenheiten wahrnehmen und die Vorlesung meines alten Professors in Köln besuchen und schaue nach, wo er dieses Semester liest und hoffe nicht im fensterlosen Trakt des Philosophikums, ein Glück im Hörsaalgebäude.
Raumbelegung Hörsaal G, Woche 22
Beim Studium der Raumbelegung habe ich praktisch Lust, zu JEDER Veranstaltung zu gehen. Besonders gut paßt und klingt die Ankündigung zu
Die Zeit, der Tod und die Hoffnung: Eschatologie
„Die Teildisziplin „Eschatologie“ ist bewegt von der Frage, ob es für unser Dasein etwas zu erhoffen gibt, das nicht wieder schlechtgemacht werden kann. Kann menschliches Leben bleibend gelingen, bleibt eine gescheiterte Existenz unabwendbar ein verfehltes Leben? (…)“
Der Dozent hat ein Buch geschrieben mit dem schön rätselhaften Titel Versprechen. Das fragwürdige Ende der Zeit.
Dienstag um 10.
Die Martinshörner in Berlin sind viel zu laut.
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Morgen: Aus dem armen Armenleben gar nicht oder nur so berichten, daß es andere nicht unangenehm berührt, ist nicht der Weg.
Am 28. Mai 2009 um 04:57 Uhr
Ich finde es so toll, dass du „von Peter Hahne“ geschrieben hast. Und dann auch noch kursiv. Kursiv ist sowieso ein super Wort. Einkauf Aktuell ist das Druckerzeugnis, das mich am allermeisten aufregt. Ersten sieht es scheiße aus und zweitens hat es diese Plastikhülle, die man theoretisch abreissen müsste, um es direkt ins Altpapier zu geben. Aber Mülltrennung regt mich sowieso zunehmend mehr auf. Eigentlich total. Alles regt mich auf, was auch schlimm ist. Ich wäre so gerne eins mit meiner Umwelt und fände vielleicht auch gerne alles spitze. Kürzlich bei sz diesen Psychotest gemacht, ob man sich selber liebt und bei jeder Frage natürlich schon gewusst, worauf das hinausläuft und wie sehr man sich nicht liebt. Und überhaupt.
Am 28. Mai 2009 um 21:15 Uhr
hello Gael
ja! Ich muß aber die ursprüngliche zu schnell geschriebene Antwort hier wieder wegmachen, weil ich es nicht aushalte. das ist das Gute, daß das hier geht. In meiner Wohnanlage gibt es jedenfalls nicht mal Glascontainer, da schämt man sich nicht länger, alles andere auch nicht zu trennen. Mein Bruder hat mal gesagt, daß sich Müllverbrennungsanlagen extra Plastikmüll hinzukaufen, um den vom Plastikmüll mühsam vom Endverbraucher getrennten Restmüll besser verbrennen zu können und die ganze Müllwirtschaft überhaupt ein extrem mafiöses Milliardengeschäft ist, in dem verschoben, gelogen und betrogen wird. Man braucht sich also darüber nicht länger Gedanken zu machen, sondern kann sich andere Gedanken machen. – Eins mit meiner Umwelt wollte ich allerdings noch nie sein.
Am 17. Dezember 2009 um 01:07 Uhr
„05.11.2009: krank
12.11.2009: weiterhin krank, ich werde meine Arbeit ab dem 19.11.2009 wieder aufnehmen
Kommentar
Unter dem Titel Lebensphilosphie werden in der Vorlesung vornehmlich Schopenhauer und Nietzsche Thema. Ihre Positionen qua Lebenswillensphilosophien werden als Indikatoren für einen Standort gelesen, auf dem die Philosophie im 19. Jahrhundert angelangt ist – in der kritischen Abwendung von einer als wirklichkeitsfremd empfundenen Vernunftphilosophie, ihren Subjektbegriffen und ihrem metaphysischem Hintergrund. In dieser kritischen Abwendung bleiben Abhängigkeiten von der Tradition bestehen; denn Gegnerschaft bedingt die Strategie des Angreifers. Die Zuwendung zum Lebenswillen als Triebkraft menschlichen Tuns und menschlichen Hervorbringungen ist trotz ihrer am heutigen Wissen gemessenen Unzulänglichkeiten ein Bruch mit der Metaphysik, der an der Zeit war. Sie ist von heutigem Wissen aus stark zu machen und zu würdigen. Dabei erfährt die Lebenswillensphilosopie des 19. Jahrhunderts eine Wandlung und Aktualisierung. Sie erscheint als Freisetzung des Weltwerdens in seine durch Metaphysik und Theologie überlagert gewesene Eigenart. Zwar vermeiden die Konzeptionen des Lebens, des (anonym transzendentalsubjektiven) Bewusstseinslebens (Husserl) und des (Sein verstehenden) Exsitierens (Heidegger, Sein und Zeit) gewisse Schwächen der Lebenswillensbegriffe. Aber beide Konzeptionen verlieren die im Menschen natürlich gebliebene und zugleich unnatürlich gewordene Lebendigkeit aus dem Blick. Ihre Berücksichtigung verändert das Substrat der Mensch, dessen intentionales Bewusstseinsleben und Existenz bedürfen. Sie machen Menschen qua lebendige Sprachwesen zu unbestimmten zwie-spältigen Wesen, so dass die philosophischen oder theologischen Bestimmungen, zu denen es kommt, nur Deutungen oder Konstruktionen sein können. Was tun? Was dagegen tun? Ich reagiere in meiner Weise des Philosophierens auf diese Fragen.“
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Love
Am 18. April 2010 um 15:19 Uhr
Witzig, ich habe am 25. Juni 2009 auf der Durchreise ebenfalls die Gelegenheit genutzt, nach längeren Jahren mal wieder die Vorlesung und das Hauptseminar eben jenes besagten Professors zu besuchen…
Das Klima hatte sich sehr verändert, keine alten und noch älteren langjährigen ‚Studenten‘ mehr, die sich mehr aus Interesse als aus Studienzwecken zur Vorlesung begeben.
Es tat trotzdem sehr gut. Obwohl es mich schon immer geärgert hat, dass ich nie richtig zuhören konnte (immer abgeschweift in Gedanken)…
Schade dass man nicht online direkt an den Vorlesungen teilnehmen kann.
Christian
PS: schöner interessanter Blog. Der erste Blog den ich interessant finde. Lese aber sonst auch keine 😉
Am 18. April 2010 um 16:21 Uhr
Ich fand immer die Art des Abschweifens da besonders gut. Und vor dem Herrn Professor habe ich bis heute so eine Heiden-Angst, daß ich ihn immer noch kaum ansehen kann weil er, glaube ich, seinerseits ALLES sieht und lesen kann, bis ins Mark! [ich habe da aber auch gar keine sogenannte menschliche Ebene angestrebt, sondern gern seinem Reinheitsfanatikertum Rechnung getragen. – Vielleicht auch meinem.] Mit den anderen langjährigen Studenten hatte ich nicht soviel zu tun und leider weiß ich jetzt bei dir auch nicht, wer du bist. Aber auch nicht, was ein Blog ist.
Ich vermisse ihn sehr und hoffe, er lebt noch 1000 Jahre!
(Online-Vorlesung wäre der Hit, da könnte man ganz ungeniert sein. Seine wahnsinnig tolle mündliche Rede auch immer der schriftlichen Niederlegung sehr vorgezogen und aber gedacht, das hat er nicht so gerne, das muß man vor ihm verheimlichen. Ganz unbeteiligt tun und im Geiste Hände reiben. Er hat ein paarmal gesagt: wir müssen das vor den Literaten schützen, damit die uns das nicht wegnehmen. Ich habe Cassettenaufnahmen aus den 90ern, aber sehr schlechte Qualität. Weil es mir zu peinlich war mich mit meinem Cassettenrekorder vorne hin zu setzen. Dann gab es ja auch mal eine Sendung mit ihm bei nicht „Von Telefon zu Mikrophon“, sondern … diese, die Sonnztags kommt…
„Zwischentöne. Musik und Fragen zur Person.“, die hat ein Kollege aufgezeichnet um 1993 herum, habe ich hoffentlich noch irgendwo. Es ist unwahrscheinlich, wie lange das her sein soll und man einfach sinnlos älter und älter wird. Paßt mir nicht.)
Am 18. April 2010 um 19:52 Uhr
🙂
Ja, das ist schon lange her, aber die Zeit ist noch sehr präsent und auch ich denke sehr oft daran…, und wäre eben auch gerne ab und zu mal wieder in seinen Veranstaltungen.
Ich neige viel eher zum Aufschreiben und Festhalten (alte Historiker-Angewohnheit: so schnell und so viel wie möglich festhalten zur späteren Auswertung in der Zukunft, von der man ja noch nicht weiss, nach welchen Kriterien man auswerten wird, weil diese ja alle paar Jahrzehnte neu entstehen?), gut zu wissen dass er diesem Denken eher mißtrauisch gegenübersteht.
Wir müßten uns vom Sehen her kennen, meine erste Veranstaltung bei ihm war WS 1992/93 glaube ich, und 2006 bin ich aus Köln weg, habe all die Jahre meistens wenigstens mal in seine Veranstaltungen hineingeschaut. Ich bin aber eher unauffällig, nie was gesagt, klein und schmächtig, etwas jungenhaft, nicht bestens gekleidet, … keine Ahnung wie man das beschreibt.
Tonaufnahmen von Veranstaltungen? Wie spannend! Wenn ich ehrlich bin, habe ich in späteren Jahren von zwei einzelnen Sitzungen eine Aufnahme gemacht, ein schönes Erinnerungsstück.
Blog: ist dies hier kein Blog den du schreibst? (Nahezu) Täglich ins Internet stellen, was einem passiert ist? Hm.
Und, falle ich dir ein?? Hehe. Ich weiß allerdings auch nicht wer du bist. Ist ja auch nicht schlimm.
Aber schön, über dieses Thema reden zu können (die besagte Person).
Älterwerden finde ich gar nicht so schlimm, aber all die Sachen, die man nicht mehr so gut kann im Alter, die vermisse ich doch schon.
Am 19. April 2010 um 16:27 Uhr
(großartige Selbstbeschreibung. Meine vorzügliche Hochachtung.)
Am 19. April 2010 um 22:29 Uhr
…mit (etwas zu großer) Brille, ließe sich noch hinzufügen. Damals. Heute mit Brille in – meiner Meinung nach – passender Größe.