Fallhöhe


Auf dem Weg zur Galerie Buchholz dachte ich beim Arbeitsraum am Neumarkt vorbeizufahren, um dort Arbeitsmittel hinzuschaffen. Es handelte sich dabei um je 2 ½ Kilo Polyesterharz und Gebinde aus essigsaurer Tonerde, Feldspat und Kaolin, versetzt mit Brom und Bor, dazu je 1 Kilo Acryllack in den Trendfarben schwarz, weiß und rot.

Beim Streckenabschnitt Höhe Habsburgerring/Pilgrimstraße rutschte die nur unzureichend bzw. gar nicht gesicherte Ladung vom Gepäckträger und fiel mit dumpfem Geräusch zu Boden. Tatsächlich waren von allen 3 Lacken die Deckel abgeplatzt, deren Inhalt hatte sich bereits nahezu vollständig in die Tasche hinein ergossen. Brieftasche, Fotoapparat, Schlüssel, Notizbuch lagen in einem an sich geschmackvoll aussehenden LSD Reichskriegsflaggensee.
Man hockt gelähmt auf dem Bürgersteig und denkt: Kann doch nicht wahr sein. Paßt aber andererseits 1A zur Stimmung.

Ein Glück kam Mauke grade aus dem KV und schloß mir auf. Gut 1 1/2 Stunde Ausweise, Buch, Geld, Apparat und mich selbst versucht zu reinigen, lagerte alles in meinem Arbeitszimmer auf Servietten hin und verließ die Stätte eilig.

Doch es war zu spät. Als ich um 20 nach 9 zum Trakt Buchholz II Elisenstraße kam, waren bereits alle Menschen fort. Dunkel, leer und still der Ort. Ich schaute durchs Fenster, taumelte zurück und fiel ins Namenlose.

Als ich erwachte fand ich mich 3 cm über Normalnull gehalten von den kugelrunden Bäuchen der Bruderschaft der letzten Tage in deren Stammlokal an der Christophstraße. Den Haaren ihrer ondulierten Damen entstieg der Pesthauch des Todes, auf dem Boden wanden sich Aal in Gelee und die zermatschten Blutegel aus der FAS. Schwach kam die Erinnerung: das Bier der Veranstaltung im ehemaligen Blumenladen war ausgegangen, man hatte die Straßenseite gewechselt.

In unterirdischen Mundhöhlen floureszierende Molche, die Zigarren rauchend in offenen Schienenwagen fuhren und über Bilanzen sprachen; dort schoß ein blutiger Kopf, da eine weiße Gestalt hervor.
Aus weichen, ungeheuren Frauenbrüsten am dunklen Delta des Amazonas mit Papageien, Piranhas und Halbedelsteinen löste sich ein mir bekanntes menschliches Gesicht heraus und ruderte unendlich langsam mit samtenen Harpunen bewaffnet auf mich zu. – Es war Ingmar, mein alter Schneider!
Er müsse mir aber jetzt doch mal was sagen, hob er an. – O nein, bitte, flehte ich und hielt mir die Ohren mit Quastenflossern zu.

Er werde es mir aber jetzt DOCH einmal sagen, und zwar werde er mir folgendes sagen:

— Was DU DA in deinem Blog MACHST, das DARF MAN JA GAR NICHT MACHEN!, das darf man doch gar nicht SCHREIBEN, das ist ja richtig hart, richtig VERBOTEN, sowas.
Aber dann lese ich es doch – alle drei Wochen oder so – und dann les ich alles runter und dann ist es ja auch einfach oft SO LUSTIG!

– Ja…

– Ja! Das wollte ich sagen.

– (Pause) Man muß sich emanzipieren.

— Ja. (Pause) Jede. Jeder.

— Ja!

Man muß das machen, was man für richtig hält und meint, verantworten zu können. Jede, jeder. Jau. – Ich fühlte meinen steifen Nacken und die Schmerzen in den Schläfen.

Beklemmung, Verengung, Maßregelvollzug: nein danke.

Dies alles aber war unerheblich für die Dramaturgie, also ließ ich es weg.

*


4 Reaktionen zu “Fallhöhe”

  1. Antwort auf die Frage

    Was ist los
    Wer spricht
    Worum geht´s

    Erleuchtet uns und unsere Handlungen das Denken mit derselben Gleichgültigkeit wie die Sonne, oder was ist unsere Hoffnung und welchen Wert hat sie

    I.L. Mai 1954

  2. matumba

    yea. sind wir auf der erde, um die höhe der sonne zu ermessen oder uns an ihren strahlen zu wärmen? (nva)

  3. admin

    Antwort auf die Fragen hätte ich auch gern.

  4. admin

    am besten gibt man sich einfach eine und geht weiter. Gibt ja morgen schon wieder einen ganzen Sack voll neuer Fragen.

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